Volker Ebendt
KINDHEITSERINNERUNGEN
Ringelberg 14
Am 31. Dezember 1942 um 8.10 Uhr erblickte ich im evangelischen Diakonissenkrankenhaus in der Sophienstraße in Karlsruhe das Licht der Welt. Ich wurde auch dort auf den Namen Volker, Wilhelm Ebendt getauft.
Meine Eltern, Wilhelm, Artur, Rudolf Ebendt und Charlotte, Elisabeth geb. Kumm heirateten am 8 . Februar 1941.
Ihre erste Wohnung war in der Kaiserstraße 13 (heute Augustenburgstraße).
Das Ende des 2. Weltkrieges verbrachten meine Mutter und ich im Ringelberg 14 bei meinen Großeltern Lina und Wilhelm Kumm,
denn der Krieg kam immer näher und unser Ort,
bedingt auch durch die „Deutsche Waffen- und Munitionsfabrik (DWM) - bei uns Patron genannt - wurde Grötzingen Ziel von Luftangriffen.
Ab September 1944 saßen wir fast Tag und Nacht im Bunker in der jetzigen Schwalbenlochhohl.
Beim Bau des Stollens hatte meine Mutter mitgeholfen. Der Stollen war nicht allzu weit von der Wohnung meiner Großeltern entfernt.
Nach der Besatzung durch die Franzosen am 6. April 1945 zogen wir wieder in unsere alte Wohnung Kaiserstraße 13.
Von dieser ersten Nachkriegszeit hat mir meine Mutter eine ganze Menge aufgeschrieben,
so dass ich meine eigenen Erinnerungen um allgemein interessante Begebenheiten ergänzen konnte.
Kaiserstraße 13
Gleich nach der Kreuzung Kirchstraße/Kaiserstraße stand und steht das Haus Nr. 13, das damals wie heute einen roten Fassadenanstrich hat. Früher war noch vor dem Haus ein mit Hecken begrünter Vorgarten. Wenn man das große schwere Hoftor öffnete, gelangte man in die überbaute Hofeinfahrt. Nach hinten hinaus zog sich das Grundstück bis zur Bahnlinie. In Verlängerung auf der rechten Seite war ein großer Schopf gebaut.
Im Erdgeschoss wohnte die alte und kranke Frau Kiefer. Sie war die Hauseigentümerin. Darüber wohnte die Familie Beck, wobei sich die Frau Beck gebärdete, als ob sie die eigentliche Hausbesitzerin wäre. Immer musste Ruhe im Haus herrschen. Selbst wenn man versuchte, die knarrende Hausgangstreppe unters Dach zu unserer Wohnung hochzuschleichen, kam sie sofort aus ihrer Wohnung heraus und schimpfte. In meiner Erinnerung war sie eine „böse Frau“, vor der man sich fürchten musste.
Der nach dem Krieg immer stärker werdende Flüchtlingsstrom brachte auch für das Dorf Grötzingen große Probleme. Es war zu einem Viertel durch Bomben zerstört und musste im Laufe der ersten Nachkriegsjahre noch ca. 1000 Heimatvertriebene – bei der Grötzinger Bevölkerung Flüchtlinge genannt – aufnehmen. Es blieb daher nicht aus, dass neben den öffentlichen Notunterkünften, wie z.B. das Schloss auch Zwangseinweisungen durch den Bürgermeister in Privathäuser erfolgte. In unser Haus wurde die Familie Bernhard Weiß aus dem Sudetenland eingewiesen. (Familie Schneider Weiß mit den Kindern Brigitte, Walter und Herbert). Meine Mutter kümmerte sich viel um sie und half, wo sie konnte, obwohl auch wir kaum etwas zum leben hatten. Brigitte Weiß hat mich immer gehütet und der Kontakt mit dieser „Flüchtlingsfamilie“ blieb ein Leben lang bestehen.
Über diese Zeit schrieb meine Mutter in ihr Tagebuch
„Der 6. April 1945 brachte in das Kriegsgesicht für unser Dorf eine Änderung.
Kurz nach 18 Uhr marschierten die ersten Truppen ein. Doch waren es keine Amerikaner, wie wir anfangs annahmen, sondern Franzosen.
Plünderungen und auch Vergewaltigungen kamen vor. In manchen Dörfern der Umgebung nahm es furchtbare Formen an.
In den ersten Tagen klopfte mir bei jedem französischen Laut das Herz bis zum Halse.
Trotz aller Gefahren entschloss ich mich, mit unserem Jungen in unsere Wohnung zurückzukehren...
Wir beide, Volker und ich hausen also schon über vier Wochen in unserem Heim.
Am Morgen stehen wir zusammen auf und abends legen wir uns, da kein elektrisches Licht da ist, gemeinsam schlafen.
.....
Bisher ging es noch mit der Verpflegung, doch ist jetzt oft Schmalhans Küchenmeister.
Vor allem Brot und Fett sind sehr knapp. Die erste Zuteilung unter französischer Besatzung für 4 Wochen:
1 ½ Pfund Zucker
3 Brote (je 1000g)
100 g Fett
100 g Teigwaren
75 g Kaffeeersatz
Kinder erhalten zusätzlich wöchentlich 250 g Nährmittel. Fleisch hat es für Erwachsene bisher für drei Wochen 300 g gegeben, für Kinder die Hälfte.
Einmal waren zwei Franzosen hier. Ich musste ihnen ihr Essen wärmen, Wasser für Kaffee machen. Auch wollten sie sich waschen. Sie aßen dann hier, tranken ihren Kaffee, waren sehr anständig und ließen als Dank dafür Weißbrot, Kekse und Kakao für Volker da. In einer Büchse war auch noch ein Stückchen Fleisch, auch den Rest des Kaffees, der Tante Rene und mir viel Herzklopfen verursachte, durften wir trinken.
Vor ein paar Tagen sagte Volker, er sei ein Franzose.
Darauf erklärte ich ihm: Nein Volker, du bist kein Franzose. Du bist ein Deutscher.
Er sieht mich einen Augenblick an und sagt dann fest und bestimmt: Nein, ich bin kein Deutscher, ich bin ein Bub.“
Soweit ein paar Auszüge aus den Tagebucheinträgen meiner Mutter.
Ehe ich jetzt aus meiner eigenen Erinnerung etwas über die Zeit ab der amerikanischen Besatzung erzähle,
eine kleine Reflexion auf meine Aussage, dass ich ein Bub und kein Deutscher bin.
Zeit meines Lebens habe ich immer versucht, ein Mensch aus meinem Heimatdorf Grötzingen zu sein,
der immer glücklich war, auch mit Menschen anderer Nationen Freundschaft geschlossen zu haben.
Heute würde ich deshalb sage: ich fühle mich als Europäer, allen Menschen guten Willens auf unserer Welt verbunden und hoffe,
dass endlich Frieden unter den Völkern herrschen wird.
Am 7. Juli 1945 wechselte die Besatzungsmacht in Grötzingen. Jetzt kamen amerikanische Truppen in den Ort.
Die französischer Truppen zogen sich bis Rastatt zurück.
Bereits Ende Juni war mein Vater aus amerikanischer Gefangenschaft entlassen worden (in Schwäbisch Hall holte ihn meine Mutter damals ab).
Gleich danach bekam er bei der Post in Karlsruhe Arbeit.
Aber schon nach wenigen Tagen sagte er, dass er dort wohl nicht lange bleiben würde,
da es für ihn keinerlei Möglichkeit zum Vorwärtskommen gab.
Schon vier Wochen danach fing er bei Mix und Genest (später Standard, Elektrik Lorenz AG) als Monteur an, wurde bald Montageleiter
und wechselte später zu der Landesvermögens- und Bauabteilung.
(Dort plante und vergab er alle Aufträge in Sachen „Schwachstrom“für das Bundesverfassungsgericht,
Staatstheater und andere öffentliche Bauten).
Die Zeiten waren hart, das Brot knapp und oft hatte mein Vater nur ein Essgeschirr Kartoffelsalat ohne Öl als Tagesverpflegung dabei. Aber in seiner Freizeit reparierte er Radioapparate oder bastelte neue aus alten Teilen. Dadurch gab es mal etwas Öl, dort ein paar Pfund Mehl, auch immer wieder etwas Obst. Durch dieses „Zusätzliche“ konnten wir mit der auf 1000 Kalorien heruntergesetzte Zuteilung an Lebensmitteln einigermaßen leben.
Unsere Dachgaubenfenster von Wohn- und Schlafzimmer gingen auf die Kaiserstraße hinaus.
Von dort konnte ich das Geschehen auf der Straße ganz genau verfolgen.
Gegenüber war die Tankstelle Siegrist, das Fuhrunternehmen Siegrist (später wurde dort auch Obst und Wein gepresst),
dann die Apotheke von Herrn Kaiser.
Fahrzeuge in Grötzingen hatten wir nicht viele. Mir ist die Fahrschule Müller neben der Pfinzgauperle in Erinnerung.
Als im November 1946 meine Schwester geboren wurde, fuhr Herr Müller meinen Vater und mich ins Krankenhaus nach Karlsruhe,
um meine Mutter mit der neugeborenen kleinen Schwester Irene abzuholen. An diese Taxifahrt kann ich mich noch genau erinnern.
Genauso an die Begebenheit, als mir ein farbiger amerikanischer Besatzungssoldat eine Apfelsine in meine kleine Hand drückte. Ich war so erstaunt, dass der Handrücken schwarz und die Handfläche dagegen fast weiß war. Kaum hatte ich die Apfelsine in meiner Hand, wurde sie mir von einem älteren Mann, der hinter mir stand, aus der Hand gerissen. So konnte ich die orangegelbe Frucht erst viel später probieren.
Im Juli 1947 hat meine Oma der amerikanischen Familie Lane, die in Durlach auf dem Turmberg Kastellstraße 10, einquartiert war, den Haushalt geführt. Frau Miriam und Herr Alfred Lane haben meine Oma so gut behandelt, dass wir in der Zeit immer meinten, fast jeder Tag sei Weihnachten. Frau Lane gab meiner Oma immer Lebensmittel mit, darunter auch Bananen und Orangen. Außerdem wurden mein Cousin Jürgen und ich öfter eingeladen, mit der Oma in die Kastellstraße zu kommen. Wir bekamen Schokolade und durften mit Wasserfarben auf Aquarellpapier malen. Den Farbkasten mit Papier schenkte mir Herr Lane und dazu noch ein herrliches Schiff zum aufziehen. Diese menschlichen Gesten des jüdischen Ehepaares habe ich mein ganzes Leben nicht vergessen und immer, wenn ich das in englisch verfasste Arbeitszeugnis lese, das meiner Oma im November 1947 von den beiden lieben Menschen ausgestellt wurde, weiß ich, dass es eine friedliche Welt ohne Waffen geben kann, wenn wir Toleranz und Vergebung üben.
Wenn ich an unsere Küche in der Kaiserstraße 13 denke, fällt mir immer der breite Blick auf den Bahnübergang auf die Rampe ein, wo Leute Schlacken aufgelesen haben, wenn die Dampfloks ausgeräumt und mit Wasser gefüllt wurden. Oder an die kleine Kohlenhandlung von Herrn Benzinger. Nicht zu vergessen den Bahnübergang mit den Bahnwärtern, die oft am Tag die Schranken nieder- und nach der Zugdurchfahrt wieder hochdrehen mussten. Das Schuhgeschäft und die Schuhmacherei Burst sind mir noch genauso in Erinnerung, wie die Bäckerei Riethmüller oder das Papierwarengeschäft Sand vis-a-vis von der Schule.
Besonders interessant war es auch, wenn meine Mutter mit einem Leiterwägelchen die „dreckige Wäsche“ zum Schloss in die öffentliche Waschküche fuhr. Bis vor kurzem noch war im Vorbau an der Kirchstraße an einer Tür noch ein Schild mit der Aufschrift „Waschküche“ zu sehen.
In der Kaiserstraße, auf der linken Seite Richtung Berghausen war neben unserer Wohnung der Konsum, bei dem Frau Becker verkaufte
und die Rabattmärkchen zum einkleben ausgab. Von den vielen Geschäften auf der damaligen Kaiserstraße möchte ich nur folgende aufzählen:
Fahrschule Müller, Gasthaus und Metzgerei Pfinzgauperle, Bäckerei Schwaiger, später das Kiosk von Frau Thais (Wolkenkratzer genannt),
das Friseurgeschäft Fischer oder das Kolonialwarengeschäft vom Krieger Onkel (Frichtolin Krieger).
Besonders erwähnen möchte ich noch die Drogerie Max Ott, die Bäckerei Klenk,
das Gasthaus zum Kaiserhof, den Schuhmacher Fritz Zick oder beim Friedhof draußen die Gärtnerei Borlinghaus.
Von all den Geschäften gäbe es viel zu berichten. Doch dies bleibt für eine andere Gelegenheit.
Bismarckstraße 19
Unsere Familie jedenfalls zog Anfang 1949 von der Kaiserstraße weg in die Bismarckstraße 19 zur Familie Hufschmidt. Frau Hufschmidt hatte im Erdgeschoss ein Papierwarengeschäft.
Von dort begann ich meine schulische Laufbahn in der Volksschule Grötzingen.
Am Liepoldsacker 14
1957 bezog unsere Familie zusammen mit den Großeltern unser Eigenheim, ein Doppelhaus. Die andere Doppelhaushälfte gehörte der Flüchtlingsfamilie Franz Urban.
Heute wohnen meine Frau Beate und ich im Haus Am Liepoldsacker 14.
(c) Volker Ebendt - 26.11.2018