Geschichtswerkstatt

Grötzingen

Wirtschafts- und Sozialgeschichte

Arbeitskreis des Heimatfreunde Grötzingen


Projekt

Handwerk, Handel und Gewerbe in den 50er und 60er Jahren


Zeitzeugenberichte
Rainer Wedler

Grötzingen, ja, wo haben wir gewohnt? Im Speitel Nr.7(?), in der Pfinzstraße 18 bei den Großeltern im Hinterhaus, 1944 „Mutter-und-Kind-Verschickung“ nach Kapfenhardt in ein „luftsicheres Gebiet“, Juni 1945 die Mutter mit zwei kleinen Kindern im Leiterwagen zu Fuß nach Grötzingen, wieder ins Hinterhaus, 1948 Goethestraße 10, 1956 ins eigene kleine Haus im Speitel-Froschhöhle, damals eine solitäre Lage ohne Hausnummer, 1960 Umzug nach Durlach.

Das Speitelhaus Nr.7(?) wurde bei einem Bombenangriff vollständig zerstört, da waren wir in Kapfenhardt, wo ein verirrter Bombensplitter bei dem Angriff am 23. Februar 1945 auf Pforzheim in das Kopfkissen meines Kinderbettchen schlug, aus dem man mich ein paar Minuten vorher herausgeholt hatte. Hatte also zweimal Glück.

Das Haus der Großeltern mit großem Hof, großem Garten und vielen Hühnern auf der Wiese war mindestens so wichtig wie die Wohnung in der Goethestraße. Der Opa, ein Kurzwarengroßhändler, hat den kleinen Rainer/Reiner in viele Geheimnisse des Lebens eingeführt. Ich führe von Geburt an ein Doppelleben, weil der Standesbeamte Reiner eingetragen hat, als meine Mutter Rainer sagte. Mit der Bürokratie habe ich deshalb bis heute immer wieder kleine Kriege auszufechten.

Im großelterlichen „Luftschutz“-Keller waren wir bei Fliegeralarm, da waren auch einige Nachbarn dabei. Das war für mich so aufregend wie das Hochwasser der Pfinz.

Die Großmutter schickte den Kleinen zum Bäcker Weiß bei den Stangen, da musste er durchs Gässle, da hatte er Angst, weil er den Angriffen der großen Gänse ausgesetzt war. Der Bäcker Weiß wurde später zum Bäcker Ruf. Die junge Frau Ruf hat mir immer kleine Süßigkeiten zugesteckt, wenn ich Brot holen musste. Offensichtlich hatte sie gute Erinnerungen an ihre Zeit bei meiner Mutter im Kindergarten. Das Mehl für ihre wunderbaren breiten Nudeln musste ich für die Oma bei der Genossenschaft holen, irgendwo beim kleinen Güterbahnhof. Aber nur Type 405, das hat sie mir immer streng aufgetragen. Und das Öl kaufte ich in der Ölmühle beim Rathaus. Das war immer sehr aufregend, der Geruch, die Geräusche und vor allem der gefährlich glatte Ölboden. Einmal bin ich der Länge nach hingeknallt zum Vergnügen der Zuschauer.

Neben den Großeltern wohnte der Dr. Paul Sauer, ein Arzt von echtem Schrot und Korn. Eine Autorität, zu der man Vertrauen hatte. Seine vier Kinder hatten ein richtiges großes Schwimmbecken. Da hab ich immer große Augen gemacht und bin dann an die Pfinz, wo sie nicht so tief war.

Magermilch in der offenen Kanne hab ich gegenüber dem Kaiserhof holen müssen und einigen Spaß daran gehabt, die Kanne im Kreis zu schwenken. Dann einmal zu langsam und die Sauerei war da. Ich von oben bis unten ein kleiner Milchmann in einer großen weißen Pfütze.

Als ich Fahrrad fahren konnte, mit dem Rad meiner Mutter, hat sich der Radius erweitert bis hin zum Metzger Arheit, heute Kunzmann. Das war ein Höllenritt auf den löchrigen Straßen, der richtig Spaß machte. Der aber war vorbei, wenn ich in der übervollen Metzgerei von den hart korsettierten Frauen hin und her geschoben wurde, bis ich endlich dran war und sagen musste: ein halbes Pfund Bauchlappen.

Zur Schule bin ich mit dem Dieter Heinold gegangen, dessen Vater im Krieg gefallen war. Ich hab mich gleich in die hinterste Bank gesetzt, den Überblick behalten, eine Position, die ich bis zum Abitur beibehalten sollte. Außerdem konnte ich von da aus mit einigen Verrenkungen die Kirchturmuhr sehen und ausrechnen, wie lange die Stunde noch dauerte. Der Lehrer Mössinger hat uns als Ortshistoriker sehr viel im Ort gezeigt. Und der Pfarrer Mudrack hat mich so beeindruckt, dass ich unbedingt Pfarrer werden wollte. Es war aber auch die gotische Schönheit der Kirche, vor allem, wenn am Morgen die Sonne den Chor beleuchtete. Das erste Abendmahl war das letzte, Pfarrer bin ich nicht geworden.

In der Schule hab ich eine Schwungtür ins Gesicht gekriegt. Vom linken Schneidezahn ist ein Stückchen abgebrochen. Die Frau Dr. Back hat das wieder in Ordnung gebracht, dafür hatte ich lange Jahre ein kleines goldenes Erkennungszeichen. Die Praxis war im Speitel Nr.7(?). Die Backs hatten die Ruine abgeräumt und ein schönes neues Haus gebaut. Der Dieter Back war mein bester Freund.

Die Schlittenbahn den Heckmannsbuckel runter ging an unserer Haustür vorbei, ehrgeiziges Ziel war, bis zur Kaiserstraße zu kommen, möglichst noch um die Ecke rum. Was hat uns der Verkehr dort interessiert. Die Eisenbahn trennte den Ort in zwei Teile, die drüben hatten für ihre Schlitten die Reithohl, nicht weniger gefährlich.

Klavierunterricht hatte ich bei Fräulein Hecht, so hat man damals gesagt, die Hermine Hecht aber war kein Fräulein, sondern eine resolute warmherzige schöne Powerfrau, so würde man heute sagen. Ich habe sie verehrt und geliebt und trotzdem immer zu wenig geübt.

Einen Vater hatte ich auch, der erst als Schneider sein Geld verdient hat, bis ihn die Bekleidungsindustrie verdrängte und er Polizist wurde. Er war ein Reingeschmeckter aus dem Harz wie noch zwei seiner Brüder, die restlichen sieben sind nach Amerika ausgewandert.

Und dann gab es noch die Patentante Helene Knab, die Tochter des Malers Friedrich Kallmorgen, der die Grötzinger Malerkolonie mitbegründet hat. Sie und ihr Mann Dr. Richard Knab wohnten in der Sommervilla des Künstlers. Dort habe ich viel gesehen und gelernt. Ein schönes Ölgemälde von Grötzingen ist aus dem Nachlass auf mich gekommen und hängt an prominenter Stelle in unserem Wohnzimmer.

(c) Rainer Wedler, Ketsch, 06.10.2018


Rainer Wedler ist Autor des Romans
Zwielichtzeit
Tübingen 2000, ISBN 3-931402-60-6

R. Wedler (Jahrgang 1942) erinnert sich in seinem Roman an seine Kinder- und Jugend-Zeit in Grötzingen mit mannigfachen Bezügen auf Personen (z.B. den prakt. Arzt Dr. med. Paul Saur in der Pfinzstraße 17) und Orte (z.B. das Wehr, das das Wasser aus der Pfinz in den Mühlgraben ableitete). Das Umschlagbild zeigt das Haus, in dem Dr. Saur praktizierte und das naheliegende Wehr.

Zitat aus dem Klappentext:
"Zwielichtzeit" - ein Stück individueller Geschichte in der großen Geschichte. Ein Roman vom Erwachen in den Zwischenjahren nach dem Krieg, ein Kaleidoskop der Umbruchzeit, in der vieles fortwirkt und Neues sich ankündigt. Skurrile Gestalten, Originale bevölkern den Mikrokosmos des Dorfes, das längst im Dunstkreis der nahen Großstadt atmet.


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zuletzt bearbeitet am 26.11.2018
von Klaus Horn, EMail = k-r-horn BEI t-online.de