HFG Arbeitskreis

Zur Wirtschafts-und Sozialgeschichte von Grötzingen - Zeitraum 1946-1970

„Es waren schwere Jahre“

Vertriebene und Flüchtlinge

An der Entwicklung unseres Dorfes nach 1945 haben auch Vertriebene und Flüchtlinge, „Volksdeutsche“, aus verschiedenen deutschen Siedlungsgebieten, wie Böhmen und Mähren, Gegenden des heutigen Jugoslawiens und Ungarns, einen wichtigen Anteil.
Etwa 1000, ohne Hab und Gut ankommende Menschen (aus: „Eintausend Jahre Grötzingen, Geschichte eines Dorfes“ von Susanne Asche) mussten in den Nachkriegsjahren in unserem Dorf versorgt, untergebracht (Grötzingen war zu 24% zerstört) und später großteils integriert werden. Das war nicht einfach, mancher Grötzinger reagierte kritisch auf die Einquartierung dieser Menschen, die unfreiwillig und ohne Lebensgrundlage hier ankamen. Die Neuangekommenen sahen das ähnlich: „Wie soll das werden? Die haben ja selber nix!“. In der Regel kamen die Menschen nicht direkt aus ihren Heimatdörfern, sondern hatten eine lange Irrfahrt und verschiedene Stationen hinter sich, sie waren nirgends willkommen. In Interviews berichten aber die, die heute noch hier leben, überwiegend vom guten Miteinander in der Not. Wilhelm Mössinger hat in seinem Buch „Grötzingen“ unter der Rubrik „Neubürger“ die Familiennamen der von 1946 bis 1960 Zugewiesenen erfasst.

Untergebracht waren die Zugewanderten z.B. im Festsaal des „Kaiserhofes“. 18 Personen lebten jahrelang hier zusammen, familienmäßig getrennt durch gespannte Leintücher oder Schränke. Andere wurden im von Zwangsarbeitern geräumten Schloss, im „Turnerheim“, in der Schule, im früheren HJ-Heim oder auch in privaten Häusern, z.B. im Café Muselmann oder in der „Pension Vögtle“ untergebracht. Ab 1948 entspannte sich in den folgenden Jahren allmählich diese prekäre Wohnsituation, als durch Baugesellschaften und Baugenossenschaften Wohnblocks mit Mietwohnungen an verschiedenen Stellen in Grötzingen entstanden. Außerdem standen in den Folgejahren den Flüchtlingen und Vertriebenen günstige Baugelder von der Landeskreditbank zur Erstellung von Eigenheimen zur Verfügung, natürlich verbunden mit erheblichen Eigenleistungen (z.B. Anfang der 50iger Jahre im Hofäckerweg und in der Bruchwaldstraße).

Fast alle Zugezogenen kamen aus ländlichen Gegenden, ihnen (und der allgemeinen Versorgungslage) kam entgegen, dass ab Oktober 1946 an Familien von der Gemeinde Gartenland zur Eigenversorgung zugeteilt wurde. Hier konnten dann landwirtschaftliche und gärtnerische Erfahrung und Kenntnisse eingebracht werden. Ein „Leiterwägele“ mit Wasserkanistern war hier unbedingt vonnöten, da das zu bearbeitende Land ja nicht im Ortskern lag. Im Schlosshof war z.B. auch Platz für Hühner- und Hasenställe.

Das Bild im Ort veränderte sich etwas: Es tauchten plötzlich farbenprächtige Trachten auf, bei Frauen und Männern. Die Grötzinger staunten nicht wenig, wenn die Frauen am Sonntag in Tracht in die Kirche gingen. Besonders die weiße Halskrause war auffallend. Bequem war diese Kleidung übrigens nicht, die Frauen konnten sich damit nicht setzen. Das hieß, dass sie während des Gottesdienstes stehen mussten, die Männer hatten es da besser. Die Trachten brachten es aber auch mit sich, dass sie ihre Träger als Zugezogene auswiesen und man sich dadurch stark von der neuen Umwelt abhob. So verschwanden die Trachten mit den Jahren. Für die Jugend waren Trachten in dieser Umgebung sowieso kein Thema mehr.

In dem überwiegend evangelischen Grötzingen gewann die katholische Kirche nun an Bedeutung, da die meisten Neubürger Katholiken waren. Die Kirche war für sie ein religiöser, kultureller, sozialer Treffpunkt, hier entstand rasch eine enge, gut funktionierende, sich unterstützende Gemeinschaft (in ihrer Heimat hatte sich das gesellschaftliche Leben vorwiegend um das Kirchenjahr gedreht). Und für die evangelischen Kinder war es anfangs unerklärlich, wohin die Flüchtlingskinder am Samstagnachmittag verschwanden. Dann klärte sich das auf: Sie gingen zur Beichte in die Kirche.

Die neuen Bürger brachten auch neue Speisen mit und erweiterten bald auch die Speisezettel der Grötzinger mit neuen Paprika-, Tomaten-, Mais- und Mohnspeisen (hier gab es auch schon mal Ärger mit der hiesigen Polizei wegen Mohnanbau).

Wenn man heute in unserer Gemeinde nach Vertriebenen- oder Flüchtlingsfamilien der Nachkriegszeit fragt, wissen die betroffenen Familien natürlich gut Bescheid. Aber auch die alteingesessenen Grötzinger wissen noch sehr wohl, wer aus einer Flüchtlingsfamilie stammt. Woran erkennt man das noch? Klingt z.B. die Heimatsprache noch durch? Bei den Älteren ist dies noch der Fall, die Kinder und Jugendlichen haben aber schnell den Grötzinger Dialekt angenommen – sie wollten ja keine Außenseiter sein. Überhaupt fanden die Jugendlichen am ehesten Anschluss im Dorf, z.B. über die Vereine, die Erwachsenen taten sich hier schwerer. Für sie führte der Weg der Integration am ehesten über die Freude an der Musik, also über Musik- und Gesangsvereine.

Die Menschen der ehemals deutschen Siedlungsgebiete kamen sehr häufig aus größeren und kleineren selbständigen bäuerlichen Betrieben. Aber diese landwirtschaftliche Arbeit konnte hier im Prinzip nicht mehr fortgesetzt werden, nur wenige fanden Arbeit in der hiesigen Landwirtschaft. Das hieß zunächst Arbeit finden als Hilfsarbeiter (z.B. bei der Pfinzregulierung), bzw. Arbeit in Anlernberufen, um sich eine wirtschaftliche Existenz zu schaffen. Hier war die Firma Herrmann ein begehrter Arbeitgeber, auch Frauen fanden hier Arbeit. Betriebe in Durlach boten ebenfalls Arbeitsmöglichkeiten. Es waren aber auch gut ausgebildete Handwerker gekommen, sie fanden schneller ihr Auskommen in der aufstrebenden Wirtschaft.

Und wie kamen die Kinder in der Grötzinger Volksschule zurecht? In den Jahren nach 1945 gab es teilweise „gemischte Klassen“, d.h. im Klassenraum saß man getrennt: vorne die Grötzinger Kinder, hinten die Flüchtlingskinder. Es gab auch mal reine Flüchtlingsklassen oder evangelische Klassen und katholische Klassen (hier wurden die zugewanderten mit den einheimischen Kindern der jeweiligen Konfession zusammen unterrichtet).

Es waren schwere ,aber für Grötzingen prägende Jahre, aus denen eine neue Gemeinschaft wuchs.

Text von
Gudrun Schultze (geborene Dengler, aufgewachsen im Schloss Augustenburg zwischen Flüchtlings- und Vertriebenenfamilien).

Für diesen Text wurden Gespräche geführt mit Anneliese Hornberger (geb. Haschka), Elfriede Reuschel (geb. Butschek), Elfriede Palm (geb. Kunz), Anna Rummel.
Ergänzende Angaben und allgemeine Informationen stammen aus den Büchern „Grötzingen“ von Wilhelm Mössinger und „Eintausend Jahre Grötzingen. Die Geschichte eines Dorfes“ von Susanne Asche.
Die Fotos der Trachten sind dem Buch „Hier waren wir einst zu Hause“ von Otto Stibor entnommen.

(6. März 2019)


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zuletzt bearbeitet von Klaus Horn am 11.03.2019
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