Geschichtswerkstatt

Zeitzeugeninterview - 12

Aue - Ostmarkstraße 50

Familie

Mein Geburtshaus (geb. 1940) ist die Ostmarkstraße 50 schräg gegenüber der Gaststätte Waldhorn [1]. Mein Vater Engelbert Flad [2] stammte aus dem Schwäbischen und war als Scheider tätig. Er hatte in die alte Auemer Familie Walschburger eingeheiratet. Die Vorfahren meiner Mutter waren Landwirte.
Hauseigentümerin war meine Großmutter Luise Walschburger; sie ist im Buch "Durlacher Alltagsleben in Bildern" auf Seite 83 bei der typischen Tätigkeit abgebildet : "L.W. richtet Gemüse für den Markt her". Sie ist selbst nicht auf den Markt gegangen; sie hat das Gemüse an Betriebe weitergegeben, die es auf Märkten in Karlsruhe und Pforzheim verkauften. Zu ihr kamen aber direkt auf den Hof "Stammkunden" aus der Stadt.
Beruflich war ich in Karlsruhe beim Badischen Gemeinde-Unfallversicherungs-Verband tätig.

Versorgung mit dem täglichen Bedarf

Schwerpunkt war die umfangreiche Eigenversorgung mit Lebensmitteln: wir hatten Hasen (Kaninchen), Hühner und Schweine. Oma hatte auch zwei Ziegen; ich bin mit Ziegenmilch großgeworden. Die Gänse wurden gestopft (gemästet),was eigentlich eine Tierquälerei war. Die Leber wurde als Spezialität verkauft. Zum Schlachten der Schweine kam ein Hausmetzger ins Haus. Wurst und Fleisch wurden als langfristiger Vorrat gelagert: Konservenbüchsen, luftgetrocknete Wurst. Auch Eier wurden im Wasserglas konserviert.
Die Felle der geschlachteten Hasen wurden aufgespannt und getrocknet. Sie wurden verkauft, wenn der Sammler für Alteisen und Felle das nächste Mal am Haus vorbeikam.
In der Nachbarschaft gab es auch Hasen-Züchter; sie waren Mitglieder des Kleintierzuchtvereins. Im großen Saal der Gaststätte Waldhorn wurden Ausstellungen mit 100 und mehr Tieren veranstaltet. Die Tiere wurden von einer Kommission bewertet; sie vergab entsprechende Preise. Für uns Kinder war bei der Ausstellung eine große Tombola besonders wichtig: ein Los kostete 10 Pfenning; wir erhielten von den Eltern eine Mark und konnten uns so 10 Lose kaufen.

Auf den Feldern aus dem Erbe der Großmutter bauten wir Weizen an. Nach der Ernte wurden die Garben in die Dreschhalle der Gemeinde gebracht, dort gedroschen und die Säcke mit den Körnern zum Mahlen zur Mühle gebracht; von dort kam schließlich das Mehl wieder zu uns ins Haus. Auch Kartoffeln wurden auf den eigenen Feldern geerntet. Als Ausgangsprodukt für das Öl, das zum Backen gebraucht wurde, sammelten wir im Bergwald Bucheckern; diese wurden zur Ölmühle [3] in der Ernst-Friedrich-Straße gebracht. Entsprechend wurde mit dem Mohn, den wir auch anbauten, verfahren.

Geschäfte für den täglichen Bedarf

Da wir unseren Bedarf weitestgehend selbst decken konnten, mussten wir nur selten zum Einkaufen gehen. Eigentlich gab es hierzu nur Anlass am Sonntag oder zu anderen besonderen Tagen. Wir sind dann oft "hinten-herum" in das Geschäft gegangen, also außerhalb der Öffnungszeiten. So zum Metzger Kunzmann [4] für einen "Vierling gekochten Schinken", ins Gasthaus für einen Krug Bier (unter der Woche wurde Most getrunken), zum Bäcker Born [5], um den zubereiteten Kuchen und das Brot backen zu lassen und zur Milchhandlung Goldschmidt[6]; die Milch wurde sofort abgekocht, die Haut abgeschöpft und als "Butterersatz" verwendet. Dort gab es auch Trockenei und Trockenmilch; die Trockenmilch war süß und schmeckte sehr gut.

Das wichtigste Geschäft war jedoch die "Gretl" Lautenschläger [7] gleich an der Ecke zur Grazer Straße (Eingang Ostmarkstraße). Dort gab es einfach alles:

Zum Konsum (in der Nähe in der Tiroler Straße) ist meine Mutter nicht gegangen; da hätte man erst Mitglied werden müssen, und das wollte sie nicht.

Handwerker

Schulen

Die ersten Jahre ging ich abwechselnd in die "alte Schule" im Hof des Rathauses und das "Neue Schulhaus" in der Grazer Straße, wo heute noch die Oberwaldschule ist. In den letzten Schuljahren mussten wir Buben in die Pestalozzi-Schule in Durlach. Und alles zu Fuß.

Medizinische Versorgung

In Aue selbst gab es keinen Arzt und auch keinen Zahnarzt. Hermann Geigle wirkte als Vorsitzender des Homöopathischen Vereins.

Industrie als Arbeitgeber

In der Landwirtschaft und in den Gärtnerein in Aue waren viele beschäftigt. Andere Möglichkeiten boten die Industriebetriebe in der unmittelbaren Umgebung von Aue : Zündhütle, Gritzner-Kayser AG, Ritter AG.

Ereignisse im Jahreslauf

Das wichtigste Fest war die Kerwe (Kirchweih) im September; es wurden große Mengen von Kuchen bei den Bäckereien gebacken. Es war auch ein Anlass, mit der Familie zu einem Festessen auszugehen. Das wichtigste Ereignis der Kerwe war jedoch das Schubkarrenrennen, das vor dem Gasthaus Waldhorn in der Tiroler Straße gestartet wurde. Heute versucht man, dieses historische Erbe zu reaktivieren.

Aue, den 30.09.2016 | Dieter Flad
Interview durchgeführt von Klaus Horn


Betriebe aus dem Adressbuch von 1952, die im Text genannt werden:

  Betrieb Branche Adresse Anmerkung
[1] Waldhorn | Karl Kunzmann Gaststätte
Metzgerei
Ostmarkstraße 33 auch AB1960
[2] Engelbert Flad Herrenschneidereien Ostmarkstraße 50 AB1960 : keine Angabe
[3] Reinhard Weissenberger Ölmühle Ernst-Friedrich-Straße 10 auch AB1960
[5] Ernst Born Bäckerei Ostmarkstraße 36 AB1960 : Wolfgang Gruner
[6] August Goldschmidt Milchhandlung Grazer Straße 19 AB1960 : keine Angabe
[7] Christiane Lautenschläger Lebensmittel-Einzelhandel Grazer Straße 1 AB1960 : Margarete L.
[8] Friedrich Kornmann Schuhmacherei Ostmarkstraße 31 AB1960 : Nikolaus Karpak
[9] Antoinette Ulmer Damenhüte Ostmarkstraße 46 auch AB1960

Liste der Gewerbetreibenden in der Umgebung
aus den Adressbüchern für 1939, 1952, 1960

Ostmarkstraße 33-59 | 46-80
Ostmarkstraße 15-31 | 14-44


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zuletzt bearbeitet von Klaus Horn am 13.10.2016 | k-r-horn BEI t-online.de