Durlach - Wirtschaftsgeschichte

Zeitzeugeninterview - 11

Untermühlsiedlung

Wenn man Durlach in Richtung Westen verlässt, dann liegt links hinter der Bahnlinie die Dornwaldsiedlung und rechts die Untermühlsiedlung. Während der Stadtteil „Untere Mühl“ auf die älteste der einst drei Durlacher Mühlen , samt Schleif- und Ölmühle zurückblicken kann und die weitere Besiedlung mit der Verlegung des Bahnhofs und der Pfinz zusammenhing, erzählte meine Mutter, dass das Dornwäldle damals noch reine Natur war. Es soll dort viele Himbeeren, besonders weiße gegeben haben. Die Bebauung dieses Gebietes begann erst in den zwanziger Jahren, dann aber mit Mietbauwohnungen des renommierten Architekten Hermann Alker und anderen Einfamilien- und Doppelhäusern.

Zurück zur Unteren Mühle. Sie muss paradiesisch schön gewesen sein. Vor allem von der Schleifmühle, Alte Karlsruher Str. 32 hörte ich oft, auch von alten Durlachern, dass das Haus von Feldern, Wiesen und dem Brüchlewald umgeben war. Und im Brüchle fand man wunderschöne Schlüsselblumen. Am Haus seien manchmal Reiter, auch Reiterinnen im Damensitz, vom Karlsruher großherzoglichen Hof vorbeigeritten. Die Kinder haben dann einen Knicks gemacht.
Eine Straßenbeleuchtung gab es noch lange nicht. Die Haustür wurde nie abgeschlossen.

Als mein Urgroßvater 1896 die Schleifmühle erwarb, hielten ihn die Verwandten und Durlacher für einen Abenteurer, „Geht der do nummer, wo sich d´ Fichs un d´ Hase Gut´Nacht sage“ . Mit dem Bau des neuen Bahnhofs Durlach und den Gleisarbeiten wurde das erste Haus an der Ecke Alte Karlsruher Straße- Untermühlstraße erbaut. Dort konnten die Bauarbeiter sich mit Essbarem und Getränken versorgen. Im Laufe der Jahre wurde Bauland freigegeben und viele Eisenbähnler und Straßenbähnler bauten sich was Eigenes.

Von der Untermühlsiedlung führte eine Fußgängerbrücke über die Gleise zum Durlacher Bahnhof. Für Kinder war es immer eindrucksvoll, in den schwarzen Rauchwolken der Lokomotiven zu stehen.

Nach dem ersten Weltkrieg gehörte Baden zur entmilitarisierten Zone und die Arbeitslosigkeit war enorm. Viele Familien , vor allem kinderreiche, konnten die Miete nicht mehr bezahlen und brauchten eine Bleibe. So wurden Baracken gebaut im Elfmorgenbruch. Das waren einstöckige Holzhäuser, ohne Unterkellerung und weinrot angestrichen.

Die große Armut jener Jahre kann sich die heutige Generation zum Glück nicht mehr vorstellen. Aus Not und Armut bedienten sich der eine oder andere hier und da. Bei Bert Brecht heißt es „Erst das Fressen, dann die Moral“. So geschah es 1949, als mein ältester Vetter zur Konfirmation ging. Es waren zwei Gänse schlachtreif gefüttert worden. Unmittelbar vor dem Fest waren die Tiere verschwunden. Die Polizei fand dann Federn im Plumpsklo in einem Haus der Baracken. Eine Strafverfolgung gab es nach meinem Wissen nicht.“ Reiß de Krott d´ Hoor raus“. Damals waren alle arm. Es war eine Zeit, in der ganz viele Menschen zu Dieben wurden, die unter normalen Verhältnissen niemals etwas weggenommen hätten. (Mundraub)

In der weiteren Entwicklung der Untermühl kam als Arbeitgeber die Firma Nachmann gegr. 1887. als Textilverwertungsbetrieb auch Lumpensortieranstalt, Alteisen und Metalle. Altkleider und Stoffreste wurden kiloweise angekauft und bezahlt. Herr Nachmann junior, später der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Badens und ab 1962 Mitglied im Zentralrat der Juden in Deutschland konnte aus dem Nazideutschland nach Frankreich flüchten. Er soll beim Einmarsch der Franzosen verhindert haben, dass in Durlach geplündert wurde.

Mit der zunehmenden Besiedlung wurde eine allgemeine Versorgung notwendig. So entstand
1 Konsumfiliale, 1 Milchlädle (später Schüchtle) und das Süßwarengeschäft Machauer. Bei Machauer kaufte die Oma immer die Osterhasen, braune Zuckerhasen. Mit dem zunehmenden Wohlstand gab es beim Geschäft eine Terrasse, auf der man Eis essen konnte. Nach meiner Erinnerung fuhr Herr Machauer auch mit seinem Fahrrad und dem sich daran befindenden Eiswagen herum, um an verschiedenen Stellen sein Eis anzubieten. Außerdem etablierte sich die Bäckerei Walz, die mit frischen Backwaren die Siedlung versorgte.

Im Schweinestall der Schleifmühle richtete Herr Voigt etwa 1948/49 zunächst eine Wäscherei ein. Mit seiner Partnerin wohnte er unter dem Dach in ärmlichsten Verhältnissen, auch das nur zu verstehen im Rahmen der Nachkriegszeit, als Wohnungsnot alles überschattete. Mit der Verbesserung der Verhältnisse änderte er die Waschküche in ein Lebensmittelgeschäft und ein Schaufenster wurde eingebaut. Später vermietete er Roller und Tretroller.

Außerdem wurde zu einem späteren Zeitpunkt eine kleine Metzgerei von Frau Marianne Roth betrieben.

Entlang des ehemaligen Steinschiffkanals entstand etwa ab 1949/50 die Pfarrer-Blink-Straße , benannt nach dem außerordentlich beliebten Pfarrer der katholischen „Peter und Paulkirche“, der am 17. Februar 1947 in der Dürrbachstraße,Ecke Nonnenbühlstr. von einem Polen / Franzosen? erschossen wurde. Ganz Durlach hat damals getrauert. Es muss ein riesiger Trauerzug gewesen sein. Auch meine Großmutter nahm daran teil und war sehr traurig. Sie war evangelisch. Die Trauer ging über die Konfessionen hinweg.

Diese Pfarrer-Blink-Straße wurde von „Flüchtlingen,“ wie man damals sagte, heute Vertriebene, bebaut. Das waren fleißige Menschen, die sich in gerade vorbildlicher Weise gegenseitig geholfen haben. Wenn ein Haus fertig war wurde dem nächsten beim Bauen geholfen. Damals trugen sie genau wie die vielen Ausgebombten, die alle nichts mehr besaßen, entscheidend zum Wirtschaftswunder bei.

Auf dem Weg zum Elfmorgenbruch befand sich schon lange die Seilerei Dreher. Die heute im Pfinzgau- Museum präsentiert wird. Nach dem Krieg führte der Sohn die Firma weiter, bis sie 1955 aufgegeben wurde, weil mit dem Aufkommen von Nylon- und Kunststoffseilen die Existenzgrundlage entzogen war.

Die einzige Gaststätte hieß wie die Siedlung „Untere Mühl“. Die Betreiber waren Familie Dehmer? Sie waren Telefonbesitzer. Zur Not durfte man dort telefonieren, oder man wurde von dort aus benachrichtigt. Als mein Großvater im Krankenhaus verstorben war (1935) geschah das so. Telefone hatten damals nur öffentliche Einrichtungen, Ärzte und Geschäftsleute. Es dauerte noch Jahrzehnte bis selbstverständlich in jedem Haus ein Anschluss war. Manche Leute hatten als großen Fortschritt einen Doppelanschluss. Da konnte man dann nur telefonieren, wenn die Leitung des Nachbarn frei war. Der Weg bis zum heutigen Mobilen Telefon und der ständigen Verfügbarkeit lag noch in weiter Ferne.

In den frühen 50iger Jahren spazierte ich mit meiner Oma ab und zu zur Autobahnbrücke. Dann war es aufregend, wenn mal ein Auto vorbeifuhr. Den Begriff „Stau“ kannte man noch nicht. Die Autobahn ,1936 eingeweiht ,war zunächst nur eine Teilstrecke. Dazu gehörte die Autobahnmeisterei, am Ende der „Alten Karlsruher Straße gelegen und mit Tankstellen in nördlicher und südlicher Richtung.

Mit dem Discounter „Wertkauf“ und der sich rasch entwickelnden individuellen Mobilität verschwanden nach und nach die kleinen Läden.

Die Zeiten ändern sich und wir uns mit ihnen.

19.09.2016 | Gudrun Mittelhamm, Durlach


Listen der Gewerbebetriebe in der Umgebung
aus den Adressbüchern für 1939, 1952 und 1960
Untermühlsiedlung


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K. Horn 20.09.2016 EMail = k-r-horn BEI t-online.de