Geschichtswerkstatt

Zeitzeugeninterview - 10

Posseltstraße 4

Wir Geschwister Gerner, ein Junge, zwei Mädchen, wuchsen in der Posseltstraße auf, also in einer reinen Wohngegend. Trotzdem konnte man alle für den Alltag notwendigen Einkäufe und Geschäfte in einem Umkreis von 300 – 500 Metern erledigen. Wir Kinder wurden auch selbstverständlich zum Einkaufen geschickt.

Der häufigste Gang war sicher zum Milchhändler in der Grötzinger Straße. Das Ehepaar Helfenstein [1] hatte dort einen eher kleinen Laden. Er: klein, rundlich, mit Glatze, von eher ruhigem Temperament, sehr genau beim Abmessen der Milch (auch den letzten Tropfen schüttelte er noch aus seinem Messbecher). Sie: eher laut und herrisch, mit schwarzen (gefärbten ?), gelockten, hoch aufgetürmten Haaren. Aus der Vollmilch, die ja noch nicht pasteurisiert war, konnte man im Sommer wunderbare Dickmilch machen.

Nicht weit davon entfernt die Bäckerei Burkhard [2], aus dem Schwäbischen zugezogen, wo es die guten schwäbischen Brezeln gab, die bei uns traditionell am Samstagabend mit Kakao gegessen wurden.

Gegenüber, später in der Weingartener Straße, gleich um die Ecke, der Konsumladen [3], wo es die wichtigsten Lebensmittel gab. Die „Märkchen“ wurden in einem Heft gesammelt und dann eingelöst. Das wurde von unseren Eltern sehr penibel gehandhabt. Der Konsum bot auch Hauslieferung an, d.h. man bekam eine Kiste vorher bestellter Waren nach Hause geliefert.

In der Grötzinger Straße, in einem primitiven Schopf im Hof, war der Schuhmacher Stickel [4]. Er legte Wert darauf, nicht Schuster genannt zu werden, das sei abwertend. Aus seinen Kreppabfällen machte er für uns Kinder kleine Bälle.

In der Gymnasiumstraße das Café Beck [5], wo unsere Großmutter, die aus der Pfalz stammte, sich regelmäßig mit den Damen des „Pfälzer Kranzes“ zum Kaffeetrinken traf, darunter auch die Seniorchefin des Musikhauses Schlaile. Wir durften sie dort abholen und bekamen dann auch noch ein Stück Kuchen. Beliebt waren besonders die Mohrenköpfe, ein Gebäck, das es heute kaum noch gibt.

Gleich daneben das Schreibwarengeschäft Kraus [6], wo wir unseren Schulbedarf, auch Schulbücher kauften, eine sehr günstige Lage, gleich gegenüber vom Gymnasium. Der Inhaber hatte beste Kontakte zum Kollegium und war immer bestens informiert über den aktuellen Schulbedarf.

Nicht weit davon, am unteren Ende der Turmbergstraße, der evangelische Kindergarten [7], der von einer Diakonisse, Schwester Martha, geleitet wurde.

Richtung Durlach Zentrum die Drogerie Wächter [8], auch ein sehr wichtiges Geschäft, wo man von Pflaster bis Möbelpolitur alles bekam.
Daneben die Volksbank [9], bei der wir unsere Sparbücher hatten.
100 Meter weiter, an der Pfinztalstraße, im alten Wasserwerk, die Volksbücherei [10], die von uns fleißig benutzt wurde.
Gleich daneben noch ein Schreibwarenlädchen, Zachmann [11].

Am Schlossplatz die Metzgerei Bühler [12], geführt von einem gewichtigen Ehepaar; beide waren immer sehr großzügig beim Abmessen des Fleisches und der Wurst. („Darf‘ s noch etwas mehr sein?“) Als Grundschülerin wurde ich am Samstag von der Friedrichsschule aus von meinem Lehrer, Herrn Fritschle, zum Metzger Bühler geschickt, um einen Ring Fleischwurst für ihn zu kaufen. Meine Mutter fand nicht so sehr die Tatsache, dass man mich aus dem Unterricht für Besorgungen fortschickte, tadelnswert, als dass das Ehepaar Fritschle einen ganzen Ring Fleischwurst für das Wochenende brauchte.

Ebenfalls am Schlossplatz der „Zuckerbühler“ [13], wie der Name sagt, ein Süßwarengeschäft. Die Inhaber, mit der Metzgerfamilie verwandt, waren ziemlich rundlich, wie es ihrem Angebot entsprach.

Weiter Richtung Marktplatz, das Reformhaus Böser [14], an derselben Stelle wie heute und immer noch in derselben Familie. Gleich daneben eine Nordsee-Filiale [15], also ein Fischgeschäft.

Gegenüber unser Hausarzt Dr. Maurer [16]. Er war eine wichtige Person, war auch oft zu Hausbesuchen bei uns. Im selben Haus der Zahnarzt, Dr. Zimmermann [17], von uns „Zahn und Zimmermann“ genannt. Er war ein leidenschaftlicher Wanderer und eilte mit großen Schritten über den Turmberg. Entsprechend mager war er daher auch.

Weiter zum Marktplatz, damals wie heute, das Messergeschäft Egeter. Ebenfalls damals an derselben Stelle wie heute das Brillenfachgeschäft Meissburger. Wichtige Adressen waren noch: das Café Kleiber, die Buchhandlung Mächtlinger, die Drogerie Hinkelmann, wo man z.B. seine Fotoarbeiten erledigen ließ, das Handarbeitsgeschäft Mader, Melang und Steponat und das Kaufhaus Wasserkampf.

In die Seitenstraßen von Alt-Durlach kamen wir eigentlich kaum. Wir hatten dort auch keine Bekannten oder Freunde.

Etwas abseits in der Marstallstraße die Klavierlehrerin, Frau Kleiber [18], geb. Koppenhöfer. Sie unterrichtete zuerst im Hause ihrer Eltern, dem Malergeschäft Koppenhöfer, später ein paar hundert Meter weiter. Zu ihr ging man durch den Schlossgarten.

Eine Besonderheit waren die Frisöse und die Schneiderin. Besonders die Frisöse, Frl. Kühn, verh. Wenzel, ist mir gut in Erinnerung: Sie kam ins Haus und ondolierte mit ihrem Brenneisen die Haare unserer Großmutter und unserer Mutter. Wir Mädchen bekamen auch ein paar Locken in die Enden unserer Zöpfe gedreht.
Die Schneiderin wohnte in der Untermühlsiedlung. Sie machte z.B. mein Konfirmationskleid mit Jacke und das meiner Schwester. Beide waren wir wenig zufrieden mit dem Ergebnis. Vermutlich machte sie auch Änderungen.

Karlsruhe/Berghausen den 20.09.2016
Posseltstraße 4 | Friederike und Irene Gerner
Karlsruhe - Grötzingen | Friederike Horn
Pfinztal - Berghausen | Irene Gerner-Haug


Betriebe aus dem Adressbuch von 1952, die im Text von Friederike und Irene Gerner genannt werden:

  Betrieb Branche Adresse Anmerkung
[1] Kurt Helffenstein Milch und Molkereiprodukte Grötzingerstraße 18 AB1960 : Berta H.
[2] Karl Burkhardt Bäckerei; Kaffee Neuensteinstraße 14 auch AB1960
[3] Konsumgenossenschaft Lebensmittel Weingartenerstraße 12 AB1960: Neuensteinstraße 5
[4] Paul Stickel Schuhmachereien Grötzingerstraße 37 auch AB1960
[5] Otto Beck Kaffee Gymnasiumstraße 4a AB1960 : Pfinztalstraße 71
[6] Fritz Krauß Papier und Schreibwaren Gymnasiumstraße 6 auch AB1960
[7] Ev. Pfarrei Durlach - Wichernhaus Kindergarten Gymnasiumstraße 4 auch AB1960
[8] Erich Wächter Drogerien Carl-Weysser-Straße 14 auch AB1960
[9] Volksbank Durlach Banken Badener Straße 5 auch AB1960
[10] Städtische Volksbücherei Kulturpflege Pfinztalstraße 1 auch AB1960
[11] Otto Zachmann Papier- und Schreibwaren Pfinztalstraße 3 auch AB1960
[12] Wilhelm Bühler Metzgereien Pfinztalstraße 26 auch AB1960
[13] Berthold Bühler Zuckerwaren Pfinztalstraße 26 auch AB1960
[14] Karl Böser Reformhaus Pfinztalstraße 11 auch AB1960
[15] Heinrich Diehl Lebensmittel Pfinztalstraße 13 AB1960: Nordsee
Fische-Einzelhandel
[16] Dr. Karl-Wilhelm Maurer praktischer Arzt Pfinztalstraße 32 erst ab AB1960
[17] Dr. Hans Zimmermann Zahnarzt Pfinztalstraße 32 erst ab AB1960
[18] Sieglinde Kleiber Musikunterricht-Klavier Marstallstraße 10 AB1960: Marstallstraße 24

Karte


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zuletzt bearbeitet von Klaus Horn am 20.09.2016 | k-r-horn BEI t-online.de