Geschichtswerkstatt

Zeitzeugeninterview - 09

Pfinztalstraße 60

Opa hat nix gemerkt

Ich gehe an der Hand von Opa von der Turmbergstrasse kommend am Wasserwerk vorbei die Pfinztalstrasse runter. Wir passieren die Karlsburg und sind schon am Marktplatz wo gegenüber, links der Krone, mein Opa seinen Laden hat. Opa verkauft Bastelmaterial für Modellflugzeugbau, Balsaholz und kleine Motoren mit Propeller, Zigaretten und Zigarren, Straßenbahnfahrkarten, später dann hauptsächlich Spielwaren.

Mein Großvater Adolf Semmler war ein hochgewachsener Mann, bekleidet mit Hut und Mantel, unterm Arm die Tasche mit Unterlagen und abends den Tageseinnahmen. Opa war in meiner Kindheit mein Papa, weil mein Papa nicht vorhanden war. Er und meine Oma Else Semmler kümmerten sich um mich und ich wuchs bis zu meinem 12. Lebensjahr bei ihnen auf. Meine Kindheit in der Turmbergstrasse 15, unterhalb der Talstation der Bergbahn, war geprägt von wilden Abenteuern um und auf dem Turmberg und ich schaffte es, selbst die stabilsten Seppl-Lederhosen durch intensiven Rutscheinsatz in Hohlwegen und an steilen Abhängen unbrauchbar zu machen. Beim Bergbahnschaffner Haudich-Karle hatte ich wohl einen Stein im Brett, weil ich immer fasziniert zu sah, wenn er das Wasser aus den Ballastbehältern der zu Tal gekommenen Bergbahn abließ. Bald durfte ich für umme mit ihm fahren (die Hexenstäffele sollten ruhig andere nehmen) und war so schnell oben beim Turm und der alten Dame, die rechts der Bergstation in einem kleinen Knusperhäuschen mit ihrem bunten Papagei lebte, mit dem es sich so schön eine Runde krächzen ließ. Er hieß selbstverständlich Lora.

1957 stand ich dann mit einer Schultüte im Arm auf dem Sockel des Train-Denkmals und musste nun täglich in das dunkle Klassenzimmer der Schlossschule in der Karlsburg, das mir kalt und feucht in Erinnerung ist und wo ich in den Pausen und freien Zeiten am liebsten mit auf die Arme gelegtem Kopf ein Schläfchen machte, während die anderen herumtobten. Im gleichen Jahr zogen wir um in das neu gebaute Eckhaus Pfinztalstr. 87 an der Kreuzung zur Ernst-Friedrich-Str., das die begüterte Schwester meiner Oma, Liese Selter, sich erbauen ließ und unten im Erdgeschoss das Musikhaus Müller und das Modegeschäft Nagel beherbergte. Jetzt lebte ich plötzlich am anderen Ende der Stadt und musste in die Pestalozzi-Schule, wo eine strenge Klassenlehrerin Arnold mit hoch getürmten schwarzen Haaren, den Kindern verbot, eine Armbanduhr zu tragen. „Zwiebeln weg“, rief sie, wenn sie das Klassenzimmer betrat. Der Spielplatz vor der Schule war streng bewacht von einem „Schütz“, vor dem man sich in Acht nehmen musste, aber meistens gelang es rechtzeitig zu fliehen, Fluchtwege gab es glücklicherweise in alle Richtungen.

Nach der Schule – ich war ein Schlüsselkind – musste ich dann zu Opa in den Laden um im hinteren Teil des Ladens, im Lager, meine Hausaufgaben zu machen. Das war schwer, denn da lagen unendlich viele Dinge zum spielen und basteln rum und wenn Opa mich erwischte flogen mir die Schulhefte um die Ohren. Opa stand gerne in seiner Ladentür, paffte seine Zigarettchen und sah den hübschen Frauen nach, die auf der Pfinztalstrasse flanierten.

Manchmal gelingt mir die Flucht. Über die Hintertür des Ladens zum Hauseingang, kurz geguckt ob er gerade in der Ladentür steht, wenn nicht, raus und gleich in die Haustür neben „Kaisers Kaffee Geschäft“ gehuscht, hoch zum Schneider im hinteren Teil des Gebäudes, der sitzt tatsächlich im Schneidersitz auf einem Tisch und näht. Kurze Verschnaufpause und über dessen Hintertreppe in den Hof der „Krone“ und von dort wieder auf die Pfinztalstrasse, vorbei am Pfisterer, dem Zigarrenladen Webert an der Ecke Zunftstraße, die Häuserfront entlang von Kaufhaus Wasserkampf und Melang & Steponath. Jetzt bin ich außer Sicht von Opa und kann ganz entspannt zum Messer-Egeter rüberlaufen und mir die Nase an dessen Schaufenster platt drücken – Bowie-Messer wie bei Karl May, kleine glitzernde Pistolen und ein Luftdruckgewehr. Ich trödele weiter, am Bäcker Kleiber und der „Nordsee“ vorbei, um die Ecke in die Marstallstrasse, in den Weiherhof. Dort, gegenüber vom neu erbauten Finanzamt waren noch die alten Marställe des Markgrafen, in denen sich kleine Firmen angesiedelt hatten. Es riecht nach Öl und Metallspänen beim Scherer, der Boden war schwarz vom ewigen wegfegen der verbrauchten Schmierstoffe und in den dunklen Räumen stehen dunkel gekleidete Männer an geheimnisvollen Maschinen, die kreischende und klagende Geräusche von sich geben und wundersame Werkstücke erzeugen. Ein paar Schritte weiter steigt heißer Dampf aus den Türen, hier hatte sich eine Wäscherei niedergelassen und es war wohl gefährlich dort näher zu treten, aber Oma schleppte mich eines morgens (noch vor der Schule!) dort hin, weil sie ihre Bettwäsche mangeln lassen musste und ich war gut fürs zusammenlegen helfen, hatte aber dennoch einen gehörigen Respekt vor den riesigen Bügelwalzen die unaufhörlich rotierten und die Wäschestücke vortrefflich glätteten.

Auf dem Rückweg, vorbei am Lebensmittel-Reeb hinter der alten Weiherhalle ein kurzer Blick auf die vergitterten Fenster des Gefängnisses – sehen tu ich keinen. Beim Getränke-Baumgärtner gelange ich auf die Amthausstrasse, biege rechts ab, aufrecht gehend an der Polizei vorbei zur Stadtkirche. Links zum Saumarkt, wo nicht viel los ist. Aber gegenüber war ein Hufschmied und es ist ein Genuss, dort bei der Arbeit zuzusehen. Große, mächtige Pferde werden herbeigeführt. Große, kräftige Männer halten sie fest, heben die Hufe und entfernten erst die Nägel und dann die alten Eisen. In der Schmiede klimmt ein heißes Feuer in der Esse und mit wuchtigen Hammerschlägen werden die glühenden Eisen auf dem Ambos den Hufen der geduldig wartenden Arbeitsgäule angepasst. Und der Geruch von verbranntem Horn liegt in der Luft und den Pferden scheint dies alles nichts auszumachen. Der Schmied ist ein freundlicher Mann und hat nichts dagegen wenn man ihm bei der Arbeit zusieht. Nur der Esse und den glühenden Stücken sollte man sich nicht zu weit nähern.

Jetzt aber schnell zurück in den Laden. Hoffentlich hat Opa nix gemerkt. Durch die schmale Gasse zwischen Rathaus und dem Feinkostgeschäft Schindel(?) geschlichen, wo heute das Cafe Kehrle residiert. Vorsichtig um die Ecke gelinst: Opa ist gerade im Laden, hat wohl Kundschaft. Rübergewetzt zum Kleidergeschäft Schneyer, die Hausfront am „Kaisers“ entlang und Hechtsprung in die Haustür neben den Laden. Geschafft. Jetzt kann ich mich wieder meinen Hausaufgaben widmen. Opa hat nix gemerkt.

Abends, um halb sieben schließt Opa den Laden ab, schaltet die Schaufensterbeleuchtung ein und wir verlassen über den von mir nachmittags als Fluchttür missbrauchten Hauseingang die Pfinztalstrasse 60. Auf dem Weg nach Hause liegt gegenüber vom Sebold das klitzekleine Kino „Kali“. In den Programmschaukästen hängen große Filmplakate und werben für einen brandneuen Western: „Ein Schuss und fünfzig Tote“. „So ein Blödsinn“, murmelte Opa, aber wir haben es ja nicht mehr weit.

Oma hat bereits den Tisch fürs Nachtessen gedeckt.

21.08.2016 | Wolfgang Semmler, Durlach

Liste der Gewerbetreibenden in der Umgebung zur Pfinztalstraße 60
aus den Adressbüchern für 1939, 1952, 1960
Pfinztalstraße 31 - 47 | 56 - 74


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zuletzt bearbeitet von Klaus Horn am 22.08.2016 | k-r-horn BEI t-online.de