Geschichtswerkstatt

Zeitzeugeninterview - 05

Dornwaldsiedlung II

Meine Eltern zogen im Jahre 1951 mit ihren beiden Buben (zwei und neun Jahre alt, der ältere bin ich) berufsbedingt von Hamburg nach Karlsruhe-Durlach. Man bekam im „Dornwäldle“, genauer gesagt in der Anton-Bruckner-Straße 5 eine Wohnung: Drei Zimmer, Küche, Bad, ca. 62 qm. Fast alle Wohnungen in der Dornwaldsiedlung waren vor dem Krieg vom Mieter- und Bauverein errichtet worden, so auch die unsere. Das Haus war als eines der wenigen der Siedlung im Krieg zerstört und 1950/51 wiederaufgebaut worden. Wir zogen also in einen Neubau.

Die Anton-Bruckner-Straße bestand aus vier Wohnblocks, zwei rechts, zwei links. Die Blocks waren vollkommen gleich. Sie hatten fünf Eingänge, jeweils einen an beiden Stirnseiten und drei dazwischen. Diese führten zu den Drei-Zimmer-Wohnungen im Erdgeschoss und im 1. Obergeschoss. Die ausgebauten Dachgeschosse enthielten darüber hinaus eine kleine Wohnung und einige Mansardenzimmer, welche zusätzlich angemietet werden konnten. In unserem Haus hat man, der Wohnungsnot der fünfziger Jahre Rechnung tragend, stattdessen zwei Wohnungen eingebaut. Die Blocks waren in ihrer Baumasse ansprechend gegliedert, im Stil folgten sie der Gartenstadtidee. Tatsächlich gab es vor den Häusern kleine Vorgärten, hinter den Häusern Gemüsegärten, jeweils 100 qm für jede Wohnung. Später hat man diese zu einer Parkanlage zuammengefasst, die vom Mieter- und Bauverein gepflegt wurde. Die anderen Straßen des Viertels waren in ähnlichem Stil erbaut. In der Johann-Strauß-Straße waren die Blocks etwas größer, in der Millöcker-Straße etwas kleiner, in der Dornwalstraße war ursprünglich nur die nördliche Seite mit Doppelhäusern bebaut, die für größere Familien geeignet waren. Auch diese waren Mietwohnungen des Mieter- und Bauvereins. Sehr viel später, vielleicht in den siebziger Jahren, wurden die übrigen Flächen von privaten Bauherren bebaut. In den 50-er und 60-er Jahren hingegen war fast alle MBV. Als Grundschüler erhielten wir Kinder, wie ich mich erinnere, die Aufgabe, die Menschen in unserem Wohnviertel zu zählen. Wir – vielleicht vier oder fünf – gingen mit Schulheften durch die Straßen, zählten die Wohnungseingänge und schrieben auf, wie viele Leute dahinter wohnten. Wenn wir es nicht wussten, klingelten wir und fragten. An das Ergebnis kann ich mich noch erinnern: ca.1200 Einwohner hatte das Dornwäldle zu Anfang der fünfziger Jahre.

Als Kinder mussten wir natürlich einkaufen gehen. Daher kann ich mich noch recht gut an die Geschäfte erinnern. Zuallererst und am wichtigsten der Milchmann. Fritz Fürstenhöfer hieß er. Sein Geschäft betrieb er in der Erdgeschosswohnung des großen Blocks in der Johann-Strauss-Straße. Man ging durch die offenstehende Haustür, dann vier oder fünf Stufen hinauf und linksherum in die Wohnung. Dort stand die Tür zum ersten Zimmer links offen. Die Frauen und Kinder standen im Flur Schlange. Auf einem Tisch standen zwei große, offene Bottiche, einer für Vollmilch, einer für Magermilch. An deren Rand hingen die Messbecher, 1 Liter, ½ Liter, ¼ Liter. Mit diesen rührte der Chef bei jedem Einschenken in die ihm entgegengehaltenen, meist verbeulten Aluminium-Milchkannen die Milch im Bottich einmal um, damit die Sahne sich verteilte. Außer Milch gab es nichts. An Butter oder Buttermilch kann ich mich nicht erinnern, aber vielleicht hatte er es doch. Käse gab es zumindest in den frühen Jahren nicht. Das Hauptgeschäft war halt die Milch. Beim Hinausgehen rief der Milchmann den Kundinnen nach: „Einen schönen Gruß an den Gasherd“ oder irgendeinen anderen Unsinn. Die Frauen schüttelten den Kopf und grinsten.

Im gleichen Block, aber schon um die Ecke, in der Anton-Bruckner-Straße, war der Konsum. Das recht große Ladenlokal mit einem Eingang und zwei Schaufenstern war anscheinend von Anfang an als Ladengeschäft geplant. Später wurde der Konsum von der Genossenschaft an Privat verkauft und die Familie Bogdanski versorgte das Viertel mit allem Lebensnotwendigen. Mein Vater hat dort bis zu seinem Tod 1996 eingekauft. Übrigens war es in den Nachkriegsjahrzehnten gar nicht so einfach, dem Dornwäldle zu entrinnen. Es gab nur die Dornwaldstraße als Zuwegung. Bei ihrer Einmündung in die Durlacher Allee existierte noch eine Treppe, die hinunter in die Siedlung führte. Wir benutzten sie als Schulweg. Oben war auch die Haltestelle der Straßenbahn und auf der anderen Seite der Durlacher Allee gab es eine entsprechende Treppe hinunter zur Untermühlsiedlung. Die heutige Unterführung mit der neuen Haltestelle gab es damals nicht. Man konnte also nicht eben mal schnell in den überdies noch nicht existierenden Supermarkt fahren. Auch in die Untermühlsiedlung war es recht umständlich. Ich bin nie dort gewesen. Nach Durlach brauchte man zu Fuß fast eine halbe Stunde. Aus dieser topographischen Lage erklärt sich, dass sich damals noch zwei weitere Lebensmittelgeschäfte halten konnten: Das von Herrn Weis in der Millöckerstrasse und das des Ehepaares Bickel in der Dornwaldstrasse. „Beim Bickel“ konnte man auch außerhalb der Ladenöffnungszeiten klingeln. Die Leute machten ausführlich, selbst nachts, Gebrauch davon. Die Bickels ärgerten sich sehr darüber, aber sie hatten es einmal zugelassen und kamen nun nicht davon weg. Sie führten ihr Geschäft bis zu ihrem Lebensende. Gegenüber betrieb in einer Garage ein Durlacher (?) Metzger eine Filiale. Die resolute Verkäuferin, die dem Laden während der ganzen Zeit seines Bestehens vorstand, sagte, wenn – wie meistens - die Wage mehr zeigte als die Kundin verlangt hatte, „sodele“. Eine Kundin soll gebrummt haben „nix sodele, mei Gwicht will i“. Im Dornwäldle war man in den fünfziger und sechziger Jahren gut versorgt.

Was mir in der Erinnerung auffällt: Es gab länger als woanders keine Autos. Ab und zu kamen befreundete amerikanische Soldaten zu Besuch. Sie hatten unglaubliche Schlitten. Der Buick, der manchmal gegenüber von uns parkte, war zweifarbig, rot und crème. Beim Anfahren setzte er sich ohne Ruckeln und lautlos in Bewegung. Ich war begeistert. Im Haus des Milchmanns kam öfters ein vornehmes amerikanisches Ehepaar zu Besuch. Sie fuhren einen gigantischen, leicht stromlinienförmigen und sehr eleganten Hudson Hornet. Die Firma gab es bald nicht mehr. Wer heute ein solches Auto auf einem Oldtimertreffen sähe, käme aus dem Staunen nicht heraus. Mein Vater hatte beruflich mit einem Patentanwalt zu tun, der es vorzog, zu Besprechungen nicht in die Firma zu kommen, sondern zu uns nach Hause. Er fuhr mit einem Mercedes 300 (Adenauer) vor, Sonderlackierung Schokoladenbraun. Man stelle sich vor, welch einen Kontrast dieses Luxusgefährt zu der bescheidenen Welt der Anton-Buckner-Straße bildete. Mein Vater wünschte sich seitdem, dass ich Patentanwalt werde. Ich habe nicht gehorcht.

(23.04.2016 - Carsten Sternberg - Enzklösterle)


Anmerkung zur Einwohnerzahl

Daten aus dem Adressbuch für 1952

Haushalte in der Anton-Bruckner-Straße 5
1. Etage | Berthold Mannschott, Installateuer
1. Etage | Willi Sternberg, Ingenieur
2. Etage | Walter Frank, Kaufmann
2. Etage | Fridolin Koch, Kaufmann
2. Etage | Eduard Merkert, Postassistent aD.
2. Etage | Bernhard Schmidt, Kontrolleur
3. Etage | Christian Greiner, Straßenbahnschaffner
3. Etage | Helmut Klemm, Angestellter
Hauseigentümer : Mieter- und Bauverein, Karlsruhe, Ettlingerstr. 3

Liste der Gewerbebetriebe in der Umgebung
aus den Adressbüchern für 1939, 1952 und 1960
Dornwaldsiedlung


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zuletzt bearbeitet von Klaus Horn am 03.05.2016 | k-r-horn BEI t-online.de