VII. Zusammenfassung und Ausblick

 

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Im Vergleich zu alten, langsam gewachsenen Städten schien die Gesellschaft einer neugegründeten Residenzstadt als ein Zufallsprodukt entstanden zu sein. Wie sich der Stadtgrundriß nach und nach mit Häusern füllte, formierte sich eine Gesellschaft aus Menschen, die einander fremd waren und welche die unterschiedlichsten Lebenserfahrungen und Weltanschauungen mitbrachten. Theoretisch vollzog sich dieser Prozeß im traditionsfreien Raum. Weder bestimmten "alte" Rechte, wie Zunftmitgliedschaft oder Ratsfähigkeit, die soziale Hierarchie, noch war der städtische Besitz zwischen den Familien fest verteilt. Als einzigartig galt diese Situation im Oberrheingebiet allerdings nicht. Die Kriege des 17. Jahrhunderts hatten die Städte so stark verwüstet, daß ein Wiederaufbau oftmals einer Neugründung gleichkam. Nach der Zerstörung im Pfälzischen Erbfolgekrieg lebten von den ehemals 357 Durlacher Bürgern gerade noch 76 und in der Stadt standen nicht mehr als fünf Häuser unversehrt. Der entscheidende Unterschied gegenüber einer Neugründung lag in diesem Falle jedoch darin, daß beim Neuaufbau an alte Traditionen und Rechte angeknüpft werden konnte: Die Häuser wurden auf den alten Grundrissen aufgebaut, die städtischen Institutionen nach altem Herkommen weitergeführt. Der Residenzneugründung vergleichbar zeigte sich aber auch die Situation in den zeittypischen Kolonistensiedlungen. 1699 siedelte der Baden-Durlacher Markgraf Friedrich Magnus eingewanderte Wallonen in dem neugegründeten, privilegierten Ort Friedrichstal an. Eine Gruppe Walden­ser erhielt ähnliche Rechte in Welschneureuth.lssl Auch in diesen Gemeinden mußte sich die Bevölkerung erst etablieren und der neuen Umgebung angemessene soziale Verhaltensweisen und Normen entwickeln; doch auch hier dürfte die Assimilation leichter erfolgt sein, da innerhalb der Einwohnerschaft die gemeinsame Nation und das gemeinsame Flüchtlingsschicksal als bindendes Moment wirkten.

 

Die beiden Beispiele weisen daraufhin, daß die gesellschaftlichen Strukturen im unmittelbaren, zeitlichen und geographischen Umfeld der Karlsruher Stadtgründung in Bewegung waren, aber auch, daß die Residenzgründung Karlsruhe ge­genüber den städtischen Wiederaufbauaktionen und den Kolonistensiedlungen der Zeit durch eine "relative" Offenheit ihrer gesellschaftlichen Strukturen hervorragt. "Relativ", insofern der Zuzug natürlich auch hier von bestimmten Interessen geleitet wurde - in erster Linie durch jene des Landesherrn. Geeignetes Medium, die Zusammensetzung seiner residenzstädtischen Bevölkerung zu beeinflussen, bot dem absolutistischen Fürsten die Privilegienpraxis. In peuplistischer Manier lockte Markgraf Karl Wilhelm Menschen in seine neue Residenz, zunächst Bauarbeiter, später bevorzugt Gewerbetreibende. Und tatsächlich unterschied sich die in Karlsruhe eingefundene Gesellschaft anfänglich deutlich von der Gesellschaft einer alten Residenzstadt. Es waren weniger wohlhabende Personen, als vielmehr solche, die bei der Aufgabe ihrer alten Lebenssituation nicht viel zu verlieren hatten. Unter ihnen befanden sich vor allem junge Durlacher, die angesichts ihres familiären Rückhaltes im nahen Durlach und ihrer Kenntnis der örtlichen Lage, bessere Ausgangsbedingungen hatten. Auch Schweizer, Franzosen und Italiener zogen zu. Vergeblich sucht man in den ersten Jahren den Adel, nur nach und nach ließ sich die Beamtenschaft in der neuen Stadt mit eigenem Hausbesitz nieder und auch die Hofdienerschaft nahm im Vergleich zur Gruppe der Handwerker und Gewerbetreibenden nur wenig Raum ein. Die mit den Privilegien verliehene Konfessionsfreiheit und die wirtschaftlichen Vergünstigungen hatten Bevölkerungssgruppen in die Stadt gezogen, die ihr eher ein koloniehaftes Gepräge gaben. Die Zusammensetzung der Bevölkerung veränderte sich dann jedoch. Nach dem Auslaufen der Privilegien 1752, spätestens seit der dritten Generation unterschied sich die Stadtgesellschaft Karlsruhes von der einer südwestdeutschen Residenzstadt in den charakteristischen Merkmalen nicht mehr.

 

 

Dieser Wandlungsprozeß - von der koloniehaften Bürgergemeinde hin zur hofbestimmten bürgerlichen Gesellschaft - ließ sich einerseits über strukturelle Analysen (Demographie und Schichtung), andererseits über die ereignisgeschichtliche Darstellung verfolgen. Während im analytischen Teil der Wandel quantifizierend aufgezeigt werden konnte, ließ sich im deskriptiven Teil die Genese der residenz­städtischen Bevölkerung anhand dreier Stationen veranschaulichen: Während der ersten Generation, die unter dem Zeichen "Gründung und Aufbau" stand, war die Hofgesellschaft noch kaum in der Stadt vertreten. Bis zur zweiten Generation hatten die beiden Lebensbereiche "Hof und Stadt" an Berührungspunkten gewon­nen. Schließlich konnte für den Zeitraum der dritten Generation am Beispiel der sozialen Fürsorge gezeigt werden, wie die landesherrlichen Beamten die Stadt endgültig dominierten.

Nun wurden auch in alten Residenzstädten Peuplierungsmaßnahmen unternommen. Die Ansiedlung und Privilegierung beschränkte sich hier jedoch auf autonome Gemeinden oder Vorstädte. Bei Berlin entstanden zwischen 1662 und 1705 die vier Flüchtlingsgemeinden Friedrichswerder, Dorotheenstadt, Friedrichstal und Charlottenburg. Auch nachdem die Gemeinden 1705 mit Berlin vereinigt wurden, behielten sie einen verwaltungsmäßigen Sonderstatus.lss3 Ähnlich zeigte sich die Situation in der Residenzstadt Hanau, neben welcher bereits Ende des 16. Jahrhunderts eine calvinistische Kolonistensiedlung angelegt wurde. Erst im 18. Jahrhundert fiel hier die Befestigung zwischen beiden Stadtanlagen.lssa In Erlangen, das seit Jahrhundertbeginn Residenz der Markgrafen von Brandenburg-Kulmbach war, blieb die Kolonistensiedlung Christian-Erlang bis 1812 unter eigener Verwaltung.

In Karlsruhe wirkte sich die Privilegierungspolitik unmittelbar auf die residenzstädtische Bevölkerung aus. Verglichen mit anderen Residenzstädten führte das zunächst zu einer beachtlichen Autonomie der Bürgergemeinde; ferner zu einer höheren sozialen Mobilität und Heterogenität innerhalb der Bevölkerung. Denn .weder hemmten Zunftschranken die Aufnahme eines Gewerbebetriebes noch war das Bürgerrecht an die Landeskonfession gebunden. Mit der konfessionellen Toleranz und der bürgerlichen Gleichstellung der Juden, für die das Manheimer Privileg von 1670 Vorbild gewesen sein dürfte, wurde eine konfessionspolitische Situation vorweggenommen, die in anderen Städten erst im Zuge der Aufklärung eintrat. Selbst in Hamburg, wo ebenfalls alle drei christlichen Konfessionen und überdies auch noch die Mennoniten das Bürgerrecht erwerben konnten, erhielten die beiden christlichen Minderheiten erst 1783 das Recht auf freie Religionsausübung und die Juden wurden nur für die kurze Phase der französischen Revolutionskriege gleichgestellt.

 

Gleichwohl zeigte sich diese, auf den Karlsruher Privilegienbriefen ruhende Liberalität, nur auf einige Jahre beschränkt. In der Konfessionsfrage setzten sich sehr schnell die Bedenken der lutherischen Kollegien durch. Dies gibt zu erkennen, daß die liberale Gründungskonzeption tatsächlich einer absolutistischen "Fürstenidee" entsprang, daß sie zumindest einer einhelligen Zustimmung im Geheimrat entbehrte. Nach lebhaften Diskussionen im Geheimrat erhielten die Katholiken schließlich doch keine Pfarrechte. Einhergehend mit der wirtschaftli­chen Krisenzeit der vierziger Jahre wurden "praeter legem" auch andere Punkte der Privilegien beschnitten. Zum Teil kamen die restriktiven Tendenzen dem Interesse der Bürgerschaft entgegen. Die Zuzugsbeschränkung für Juden und die Erhöhung des Vermögensnachweises für Bürger sicherte ihre, ehemals durch Subventionen begünstigte, wirtschaftliche Stellung.

 

Auch die konfessionelle Toleranz führte nicht eigentlich zu einem religiösen Pluralismus, sondern zumindest für einige fremdkonfessionelle Zuwanderer, zu einer Orientierung an der Landeskonfession. Maßgeblich trug dazu bei, daß es sich bei den fremdkonfessionellen Zuwanderern um ökonomisch bzw. professionell homogene Gruppen handelte. Insbesondere bei den Katholiken ließ sich feststellen, daß deren demographische Werte viel stärker durch ihre ungünstige ökonomische Lage und ihren rechtlichen Minderheitenstatus als durch ihre Konfessionszugehörigkeit bestimmt waren. Es ist zu vermuten, daß eine fremdkonfessionelle, unterschichtige Gruppe, wie sie etwa die Katholiken in Karlsruhe vor allem vor 1771 darstellten, prinzipiell geringere Chancen zum Auf­bau familialer Strukturen und zur höheren Kinderzahl besaßen - gleich welcher Konfession sie angehörten. Die Bedeutung der Konfession als demographischer Faktor müßte nach den hier gewonnenen Ergebnissen zugunsten der Wirkung materieller und rechtlicher Voraussetzungen eingeschränkt werden.

 

Der Beginn der residenzstädtischen Entwicklung läßt sich nicht als Jahreszäsur fassen. Schon in der Mitte der vierziger Jahre verursachte die kriegsbedingte, wirtschaftliche Krise erneut einen Bevölkerungsaustausch. Man könnte 1752, das Jahr der Privilegienerneuerung nennen, ebenso das Jahr 1764, in welchem der planmäßige Ausbau zur Residenzstadt begann. Auf jeden Fall ist die Zäsur innerhalb des für die zweite Generation gewählten Zeitraumes zu suchen, und zweifellos hängt dieser Wandel eng mit dem Regierungsantritt des neuen Baden-Durlacher Regenten, Markgraf Karl Friedrichs, zusammen. Er beabsichtigte die Stadt zu einer repräsentativen Residenzstadt auszubauen, in welcher Bevölkerungsgruppen wie dem Adel und der hohen Beamtenschaft eine wichtige Funktion zukam. In den wenigen überlieferten Tagebuchaufzeichnungen Karl Friedrichs liest man unter dem Datum 26. November 1764: Ich wünsche sehr, daß es möglich möcht gemacht werden, reiche Familien, besonders Adelige dahin zu vermö­gen, ihre Wohnungen hier aufzuschlagen.  Daß es ihm gelang, den Rückstand in der residenzstädtischen Entwicklung aufzuholen, lassen nicht nur die Ergebnisse des strukturellen Analyseteils erkennen, sondern auch die exemplarische Darstellung der für die Zeit äußerst modernen, aufgeklärten Institutionen. Karlsruhe reihte sich in den achtziger Jahren des Jahrhunderts nahtlos in die Reihe der Residenzstädte des Reiches ein. Die Reiseberichte aus jener Zeit geben Zeugnis davon. Diese Veränderung wurde zugleich von einer zunehmenden ökonomischen und professionellen Differenzierung innerhalb der Stadtgesellschaft begleitet. Die unplanmäßig am Stadtrand entstandene Siedlung Klein­Karlsruhe erwies sich dabei immer deutlicher als ein von der Stadt abgehobenes Gemeinwesen, als "soziales Auffangbecken" der residenzstädtischen Gesellschaft. Hier ließen sich Alte und Witwen, Tagelöhner, herrschaftliche Knechte und Soldaten nieder, hier wurden dann aber auch während der Revolutionsjahre unter der Führung einer kleinen Gruppe Gewerbetreibender eigene kommunalpolitische Interessen artikuliert.

 

 

Läßt sich nun verallgemeinernd bei den absolutistischen Residenzneugründungen von einem entwicklungsfähigen "Kolonistentyp" sprechen? Für Karlsruhe dürfte dies durchaus zutreffen. Das Bild der Baden-Durlacher Residenz war bis über die Jahrhundertmitte hinweg von dem Ereignis der Gründung bestimmt. Es hätte zweifellos eher dem der benachbarten und ebenfalls lutherischen Residenz der Landgrafen von Hessen-Darmstadt geähnelt, wäre die badische Residenz in Dur­lach geblieben. In Darmstadt errichtete man in der ersten Jahrhunderthälfte eine Vorstadt, in welcher überwiegend Beamte siedelten, und es entstanden individuell gestaltete Adelspalais, die der Karlsruher Modellbau von vorneherein aus­schloß.lsbo Zwischen Stadtrat und Landesherr kam es hier um "alte Rechte", um den Stadtmauerbau und die Ratsbesetzung zu offenen Konflikten.ls61 In Karlsruhe konnte der Rat gegenüber dem Landesherrn allenfalls auf die Privilegienbriefe rekurrieren. "Alte Rechte", die überdies identitätsstiftend und damit das Selbstbewußtsein fördernd auf die Bürgergemeinde eingewirkt hätten, fehlten. Schließlich erhielten die Darmstädter Katholiken erst im Jahre 1790 das Recht zur freien Religionsausübung; die Juden wurden 1796 erstmals zum vollen Bürgerrecht zugelassen.1562 In ähnlicher Weise dürfte man sich die Entwicklung Durlachs vorstellen, wenn es nicht zur Gründung Karlsruhes gekommen wäre. Vergleicht man nun das institutionelle Niveau Darmstadts mit dem Karlsruhes am Ende des Jahrhunderts, so schneidet Karlsruhe eindeutig besser ab. Es bliebe zu überlegen, ob nicht gerade der Rückstand in der residenzstädtischen Entwicklung bei Karl Friedrich die energischen, innovativen Maßnahmen hervorrief.

 

Die Charakterisierung als "Kolonistentyp" läßt sich jedoch nicht verallgemeinernd auf alle absolutistischen Residenzgründungen anwenden. Diese Klassifizierung dürfte sowohl für die Einordnung der Stadt als auch der Bevölkerung zu eng sein. Angemessen wäre es von einem "funktional bestimmten" Bevölkerungstyp zu sprechen, der daraus resultierte, daß es sich bei diesen Neugründungen um vom Stadtgründer für bestimmte Funktionen ausersehene Gemeinwesen handelte. Dem Residenzsitz konnte dabei die für die Bevölkerungsstruktur und damit auch für die Stadt prägende Rolle zukommen, wie es etwa in Ludwigsburg der Fall war. Daß dies jedoch nicht zwangsläufig eintreten mußte, ließ sich am Beispiel Karlsruhes für die erste Jahrunderthälfte zeigen.

 

Dem Rechtshistoriker Wolfgang Leiser, der sich in seinen grundlegenden Aufsätzen zu rechts- und sozialgeschichtlichen Themen der südwestdeutschen Stadtgeschichte auch immer wieder zu Karlsruhe geäußert hat, gibt diese Untersuchung in einem Punkt seiner "Stadtcharakteristik" recht, um ihn dann jedoch in einem weiteren einzuschränken: In seiner Antrittsvorlesung an der Universität Freiburg im Jahre 1964 stellte Leiser das Gründungsprogramm der Baden-Durlacher Residenz als Kombination einer Residenz- und Gewerbegründung vor. Entstanden sei schließlich nur eine "typische Residenzstadt", deren Existenz vom Hofe abhängig geblieben sei.Betrachtet man die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, so trifft diese These durchaus zu. Beschäftigt man sich hingegen auch mit der ersten, freilich quellenärmeren Jahrhunderthälfte, so hebt sich jene Zeit deutlich von der späteren ab. Die Stadt besaß, allein aufgrund der Zusammensetzung ihrer Bevölkerung, in jenen Jahren zweifellos eher einen gewerbebürgerlichen als residenzstädtischen Charakter.

 

 

Epilog: Von der markgräflichen Residenz zur Hauptstadt des Großherzogtums Baden

 

Am 22. August 1796 fiel die wichtige Entscheidung: Die Markgrafschaft Baden schloß mit Frankreich Frieden. Die politische Seite war richtig gewählt, Reitzen­steins Entschluß der Beginn für den Aufstieg der kleinen Markgrafschaft an der Westgrenze des Alten Reiches zu einem Mittelstaat mit europäischer Bedeutung. Bis zur Erhebung zum Großherzogtum im Juli 1806 hatte sich das Territori­algebiet vervierfacht, die Bevölkerung Badens verdreifacht.lsba Auch in der Resi­denzstadt war der Bevölkerungszuwachs zu spüren. Wie schon nach 1771 schnellte die Einwohnerzahl rasch in die Höhe: Von etwa 8700 Einwohner um die Jahrhundertwende auf 15.000 im Jahre 1815 - ein jährliches Wachstum von 4,8%. Auch die konfessionelle Gliederung hatte sich nochmals deutlich verschoben. Der Anteil der Katholiken war auf 29,3% gestiegen, die Zahl der Reformierten hatte ebenfalls leicht zugenommen, die Anhänger der Landeskonfession vereinigten in­des nur noch 61,6% auf sich. Auch darin spiegelte sich nur die territoriale Entwicklung wieder. Mit der Gebietserweiterung waren weitere fremdkonfessionelle Landesteile hinzugekommen, die reformierten Gemeinden der Kurpfalz und der Reichsritterschaft, weite katholische Gebiete, darunter die säkularisierten Fürstbistümer, durch welche der Katholikenanteil des Großherzogtums eine Höhe von über 60% erreichte. Für die Integration der Landesteile war es durchaus von Vorteil, daß die konfessionellen Minderheiten bereits zuvor in der Residenz geduldet waren. Die Gründung einer katholischen Pfarrei wurde angesichts der großen Katholikenzahl in der Residenzstadt ohnehin unumgänglich, und problemlos ließ sich hier an die seit der Stadtgründung bestehende Tradition des Kapuzinerhospiz anknüpfen. Die Reformierten konnten noch vollständiger integriert werden: 1821 vereinigten sich lutherische und reformierte Kirche zur evangelischen Landeskirche. Für die alte reformierte Kirche in Karlsruhe hieß dies, daß sie nun einer inzwischen ungleich größeren Bevölkerungsgruppe, den Solda­ten, als Raum zu dienen hatte. Die Juden, welche schon einmal in der Karlsruher Geschichte das volle Bürgerrecht genossen hatten, gewannen es nun im Rahmen der landesweiten Reformen stückweise wieder: 1808/11 das beschränkte, passive und 1832 schließlich das volle Bürgerrecht. Doch diese Neuerungen betrafen alle badischen Städte gleichermaßen und standen im Dienste des "inneren Staatsaufbaues". Die Probleme des Landes besaßen nun gegenüber der Residenzstadt eindeutig Priorität. Der Aufbau einer einheitlichen Landesverwaltung stand nun als politisches Programm an; die besondere Beachtung, welche der Residenzstadt als "kommunalpolitisches Experimentierfeld" in der zweiten Jahrhunderthälfte zugefallen war, hob sich damit auf. Karlsruhe hatte sich einzufügen in die Nivellierungstendenzen des modernen Staates. Mit dem Organisationsedikt von 1809, das für alle Städte und Kommunen einheitliche Richtlinien vorsah, erloschen die, die Residenzstadt auszeichnenden Privilegien. Beim Regierungsantritt Großherzog Karls versuchte der Karlsruher Rat zwar nochmals die Bestätigung der Stadtprivilegien zu erhalten, doch die Kreisregierung lehnte das Gesuch schon im Vorfeld ab.1569 Während dieser Jahre des Umbruches sorgten sich die Bürger berechtigterweise um die Zukunft ihrer Stadt. Bei jedem neuen Gebietszugewinn, im Dezember 1803 und im Februar 1806, entstanden Gerüchte, nun würde die Residenz verlegt werden. Denn immerhin hatte Baden nun die bedeutenden Residenzen Mannheim und Heidelberg hinzugewonnen, und vieles sprach dafür, die Residenz in das bevölkerungsreichere und repräsentativere Mannheim zu verlegen. Zweimal fragte der Stadtrat bei der Regierung an, ob die Bürgerschaft auch darauf vertrauen könne, daß die Residenz in Karlsruhe verbliebe. Die Stadt trug an den Belastungen der Rheinbundzeit, an den Schulden und den straffen Reformen; sollten die Frankreich zu verdankenden Gewinne für die Stadt zum Pyrrhusieg werden? Blickt man auf die bauliche Entwicklung der Stadt, so deutete nichts daraufhin. Nach dem Luneviller Frieden (1801) begann Weinbrenner die heute die Stadt noch prägenden klassizistischen Bauten. 1804 entwarf er neue Modelle für Privathäuser. Wie im 18. Jahrhundert sollten die Häuser genauen Bauvorschriften entsprechen, nur daß nun die Entwürfe differenzierter waren. Vom einstöckigen bis zum vierstöckigen Haus wurden Modelle angeboten. Im Grunde spiegelte sich hier die gestiegene Differenzierung der Stadtgesellschaft wider. Auch die alte Karlsruher Handwerkerfamilie Nothard war noch in der großherzoglichen Residenzstadt wohnhaft. Zwei ihrer Mitglieder wohnten nun in den neueren Häusern der Zähringerstraße, Kanzleidiener Daniel Nothard in Nummer 32, Peruquier Karl Nothard nebenan in Nummer 34. Das dritte Mitglied der Familie hatte seinen Wohnsitz in der Herrengasse behalten. Doch auch Christian Nothard übte kein traditionelles Handwerk mehr aus, sondern hatte sich spezialisiert. Das Adressbuch führte ihn als Konditor auf.

 

Mit der Marktplatzgestaltung Weinbrenners wies die Stadt erstmals eine "bürgerliche Mitte" auf. 1805 wurde der Rathausbau begonnen, dessen Errichtung sich dann allerdings zwanzig Jahre hinzog. 1807 legte man die lutherische Kirche nieder, wodurch die Neuanlage des Markplatzes erst möglich wurde. 1816 konnte die neue lutherische Stadtkirche eingeweiht werden. Inzwischen war es längst sicher, daß die Stadt Residenz bleiben würde und damit ließ sich auch der Aufschwung der kommenden Jahrzehnte absehen. Bis zum Tode Weinbrenners im Jahre 1826 hatte die badische Residenzstadt ihr Gesicht gewandelt. Bestimmt wurde es nun von der Monumentalität der Weinbrennerbauten, die in ihrer Wirkung den Baubestand des 18. Jahrhunderts weit übertrafen. Das entsprach zwar der enormen territorialen Entwicklung des Landes und der badischen Politik, die nunmehr in größerem, europäischem Rahmen angesiedelt war, doch die gewachsene residenzstädtische Gesellschaft des 18. Jahrhunderts sah sich unvermittelt damit konfrontiert. Würde sie das Bevölkerungswachstum, das Herandrängen neuer Bevölkerungsgruppen als Herausforderung verstehen oder würde sich ihre Behäbigkeit, gar Bequemlichkeit, ihre Provinzialität - die durchaus Lebensqualität bedeuten kann - durchsetzen Zumindest der Rahmen für eine Fortentwicklung wurde mit Weinbrenners Stadtplan geschaffen. Glaubt man Rahel Varnhagen, so blieb dieser Rahmen zu weit gespannt: "Ein jeder, den man hier sieht, In- und Ausländer klagt hier über die Unmöglichkeit, eine Gesellschaft zu haben. Dies ist nicht wahr: mit ein wenig mehr Aufwand, der bei vielen hier ist, und nur einer oder zwei Frauen (die ich bekäme, hätte ich Besuche und Bekanntschaften gemacht), kann man sich eine Gesellschaft bilden. Es sind einzelne Personen genug dazu da. Aber niemand bleibt alle Abend zu Hause, niemand hat menschliche Stunden - um ein Uhr essen sie zu Mittag, um halb neun Uhr zu Nacht; bitten sich nur die Menschen, wenn sie Gesellschaft wollen; die eine bleibt bei ihren Kindern, die Freiheit und Vermögen hat - nur solches wie wir -, die andere, in dem Fall, wartet ihren amant ab. Kurz, es fehlt den Personen, die sich sehen könnten, eine volle Stadt als Unterlage und Grund ihrer Gesellschaften; und sie behalten recht: 'Eine Capitale ist schön; eine Residenz soll nicht mehr existieren!' Und die hier bleibt ein souveränes Nest!“